Vorschläge für die Realisierung einer Europäischen Charta der Interkonviktionalität
vorgelegt von der internationalen, interkulturellen und interkonviktionellen Gruppe (G3i)*

Vorwort

Francois Becker teilt mit, dass dieser Text am 19. September dem französischen Senat vorgelegt wird und danach leicht verändert werden kann.

Dieses Dokument beginnt mit der Definition des Begriffs „Konviktion = Weltanschauung“, dieser fundamentalen individuellen oder kollektiven Komponente der menschlichen Vielfalt und des Austauschs oder der Konfrontationen, die sie zwischen Einzelnen oder menschlichen Gemeinschaften herbeiführt. Diese Vielfalt an Weltanschaungen, die häufig Ursache von zum Teil gewaltsamen Konflikten ist, kann auch die Grundlage individuellen oder kollektiven Fortschritts sein, wenn man sie nicht als ein Hindernis für das Gemeinschaftsleben betrachtet sondern im Gegenteil als eine Quelle wechselseitiger Bereicherung und als Stärkung der Wirksamkeit von Aktionen in geteiltem Interesse.

Den Gebrauch der neuen Sprachschöpfung „Interkonviktionalität“ zu fördern folgt aus diesen Feststellungen. Diese ermöglicht, die Verhaltensweisen, die Dialoge und die Praktiken, die zum Ziel haben, das Zusammenleben, den Dialog und die gewaltlose Konfrontation zwischen Personen und Gemeinschaften unterschiedlicher Weltanschauungen zu organisieren, um ein besseres gegenseitiges Verständnis zu erreichen, aber auch und besonders mit der Absicht, die Möglichkeiten gemeinsamen Handelns zu erforschen selbst dann, wenn große Unterschiede in den Motivationen bei der Verfolgung dieser Ziele bleiben. Dieses Konzept erlaubt auch, die Institutionen und Räume zu definieren, die geeignet erscheinen, dies zu ermöglichen.

Das hier vorgestellte Projekt besteht aus zwei komplementären Teilen. Der erste definiert die möglichen Inhalte einer Charta mit diesen Zielsetzungen, der zweite enthält die Begründungen, um zu legitimieren, dass die europäischen Institutionen hierin eine vorrangige Aufgabe sehen sollten.

1. Teil: Mögliche Inhalte der Charta

 

Unter Berücksichtigung, dass die Gesamtheit der Menschen eine generische Einheit mit einer extremen Vielfalt an Existenzformen und Interaktionen darstellt,

Unter Berücksichtigung, dass die Geschichte der Menschheit, ohne Zweifel seit ihren Anfängen, viele Formen der Solidarität aber auch der Konflikte bezeugt, deren Gewalt bis in unsere Tage zur Vernichtung der ganzen Art führen könnte, sogar allen Lebens auf der Erde.
Feststellend, dass sich die Nationen angesichts dieser Risiken internationale juristische Regeln gegeben haben, die die gleiche Würde aller Mitglieder der menschlichen Familie bestätigen sollen, und ihnen gleiche bürgerliche, soziale und kulturelle Rechte, individuell und kollektiv, die Achtung der fundamentalen Freiheiten und den sozialen Fortschritt und den Frieden sichern sollen,

Daran erinnernd, dass in diesem Geist die Präambel der Charta der Vereinten Nationen von 1945 erklärt, dass „die Völker der Vereinten Nationen entschlossen sind, künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren, Toleranz zu praktizieren und in Frieden miteinander zu leben in einem Geist guter Nachbarschaft“,

Daran erinnernd, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 in ihren Artikeln 18 und 19 als Ziele formuliert, dass

a) jede Person das Recht auf Gedankenfreiheit, Gewissens- und Religionsfreiheit hat, das das Recht einschließt, seine Religion oder Weltanschaung zu wechseln, sie allein oder in Gemeinschaft auszuüben durch Unterricht, Glaubenspraxis, Kult und Vollzug von Riten; und dass

b) jedes Individuum das Recht auf Freiheit der Meinung und der Äußerung hat, was einschließt, nicht wegen seiner Meinungen bedroht zu werden, und das Recht, ohne Einschränkungen Informationen und Ideen zu suchen, auszutauschen mit welchen Ausdrucksmitteln auch immer.

Daran erinnernd, dass die Europäische Konvention der Menschenrechte von 1950 in ihrem Artikel 9 und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union von 2000 in ihrem Artikel 10 sich in analoger Weise zur Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit äußern,

Daran erinnernd, dass die Allgemeine Erklärung der UNESCO über die kulturelle Vielfalt vom 2. November 2001 bekräftigt: „Die Kultur muss angesehen werden als die Gesamtheit der spirituellen und materiellen, intellektuellen und gefühlsmäßigen Eigenheiten, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe charakterisieren und die neben den Künsten und der Literatur die Lebensweisen, die Art des Zusammenlebens, die Wertesysteme, die Traditionen und Weltanschauungen umfasst.“

Und auch, dass „ die Kultur im Zentrum der gegenwärtigen Debatten über die Identität, den sozialen Zusammenhalt und die Entwicklung einer Ökonomie, die auf Wissen gegründet ist“ und weiter, dass die Achtung vor der Vielfalt der Kulturen, die Toleranz, der Dialog und die Zusammenarbeit in einem Klima des Vertrauens und des gegenseitigen Verständnisses die besten Voraussetzungen für den Frieden und die internationale Sicherheit sind.

Feststellend schließlich, dass die internationalen Beziehungen durch zahlreiche Erklärungen, Übereinkünfte und Verträge organisiert werden, und wenn auch die Zusammenarbeit und der interkulturelle Dialog das Objekt vielfältiger Konventionen und internationaler Direktiven waren, waren die interkonviktionellen Beziehungen zwischen Einzelnen und Gemeinschaften , die verschiedene Weltanschauungen haben, nie das Objekt juridischer Überlegungen oder von Institutionen mit der Aufgabe, sie zu erklären, ihre Rolle und ihre Inhalte zu präzisieren, ihre Formen festzulegen und sie auf den verschiedenen Ebenen zu organisieren, auf denen sie unentbehrlich sind.

Um diese Lücke auszufüllen, schlägt die G3i, vor, eine Europäische Charta der Interkonviktionalität zu erarbeiten und zu verwirklichen, deren Bestandteile sich von den folgenden Elementen inspirieren lassen könnten:

1. Die Weltanschauungen

Art. 1 Eine Weltanschauung umfasst die gesamte Geisteshaltung – die Vernunft, den Willen und die Empfindungen – basierend auf Rechtfertigungen, die für ausreichend gehalten werden, um sich ihr anzuschließen. Sie kann philosophischer, religiöser, politischer, sozialer und kultureller Natur sein.
Art. 2 Die persönlichen Weltanschauungen sind essenzielle Bestandteile der Gedanken- und Gewissensfreiheit.
Art. 3 Jede Person hat das unveräußerliche Recht, Weltanschauungen zu haben, sie zu vertreten und sie gegebenenfalls zu ändern.
Art. 4 Niemand kann sich zum Besitzer der Wahrheit einer Weltanschauung erklären, die ihn ermächtigen würde, sie den anderen aufzuzwingen.
Art. 5 Die persönlichen Weltanschauungen sind das Ergebnis einer Vielfalt von Faktoren, die sich aus der Unterschiedlichkeit der Menschen ergeben
Art.6 Eine persönliche Weltanschauung kann mit verschiedenem Engagement und verschiedener Intensität angenommen, internalisiert und vertreten werden, was die Möglichkeit der Entwicklung und differenzierter Kompromisse bietet.
Art. 7 Gemeinschaften können sich auf der Basis geteilter Weltanschauungen frei bilden, falls sie die Regeln gewaltloser Koexistenz mit den Vertretern anderer Weltanschauungen einhalten, die die gleichen Rechte besitzen und die gleichen Regeln respektieren.

2. Interkonviktionelle Debatten und Gemeinschaftsleben

Art. 8 Die Existenz persönlicher Weltanschauungen bildet und entwickelt sich ständig in der Konfrontation mit anderen Weltanschauungen.
Art. 9 Die Schule ist der erste Ort, um die Vielfalt an Weltanschauungen wahrzunehmen und den interkonviktionellen Dialog zu erlernen.
Art. 10 Gegenüber der Unterschiedlichkeit der Weltanschauungen können zwei Verhaltensweisen angenommen werden: sie als Hindernis für die eigene Identität anzusehen oder im Gegenteil als Beitrag, um diese zu entwickeln und durch den Kontakt mit den anderen zu bereichern.
Art. 11 Die erste Verhaltensweise tendiert zu einem idenditären Rückzug und kann zu einer möglicherweise gewaltsamen Ablehnung des Anderen führen.
Art. 12 Die zweite Verhaltensweise schließt die Anerkennung der gleichen Würde und der gleichen Rechte aller Menschen ein und auch ihren potentiellen Gewinn für die Anderen aufgrund ihrer Unterschiede.
Art. 13 Die Praxis des interkonviktionellen Dialogs besonders durch „ergebnisoffene“ Debatten bietet die Chance, sich selbst und gleichzeitig die Anderen besser zu kennen und weckt das Bedürfnis, von ihnen bis in die tiefsten Weltanschauungen anerkannt zu werden. Sie führt so zu der nötigen gegenseitigen Anerkennung.

3. Interkonviktionelle Debatten und Gemeinschaftsleben

Art. 14 Die Vielfalt der Weltanschauungen in einer Gesellschaft impliziert auf kollektiver Ebene das Vorhandensein interkonviktionellen Austauschs, der das gegenseitige Verständnis stärkt und der gemeinsames Handeln vorstellbar erscheinen lässt, das mehr oder weniger akzeptiert werden kann, auch wenn Reserven bleiben.
Art. 15 Die interkonviktionelle Praxis ist die Grundlage der verantwortungsvollen Ausübung der Freiheiten. Sie trägt dazu bei, Konflikte gewaltfrei zu lösen.
Art. 16 Die interkonviktionelle Praxis hat die Aufgabe, das Funktionieren kollektiver Organisationen zu strukturieren und sie voranzubringen, seien sie privat oder öffentlich, darunter Netzwerke der Zivilgesellschaft und Nichtregierungsorganisationen.
Art. 17 Die interkonviktionelle Praxis, ihre Orte und Strukturen sind die Grundlage der regulären Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger am politischen, sozialen und kulturellen städtischen Leben, sie führt zur Entstehung und der Kontrolle der Entscheidungen, die von den Instanzen getroffen werden, die sie dafür auf den verschiedenen Ebenen der politischen Organisation der Gesellschaft delegiert haben.
Art. 18 Es ist besonders bei der Ausarbeitung der lokalen und regionalen Politik wichtig, dass die interkonviktionellen Praktiken ihre Nützlichkeit, bzw. Notwendigkeit zeigen. Sie garantieren die größtmögliche Ausgewogenheit und Effizienz. Die bürgerliche Willensbildung in dieser Form ist Bestandteil jeder demokratischen Herrschaftsausübung.
Art. 19 Die interkonviktionellen Debatten haben nicht die Zielsetzung, die Organisationsform der Delegation der politischen Entscheidungsmacht in Frage zu stellen. Sie greifen legitimerweise ein im Sinne der von den Instanzen getroffenen Entscheidungen, die die Aufgabe haben, sie im Namen der Bürger zu treffen, und bei der Begleitung ihrer Umsetzung.

2. Teil: Berücksichtigung des Projekts der Charta durch die offiziellen europäischen Institutionen

Unter Berücksichtigung der politischen, sozialen und kulturellen Verschiedenartigkeit der europäischen Staaten und Völker,

Unter Berücksichtigung, dass sich Europa, unter anderen, zwei hauptsächliche öffentliche Institutionen gegeben hat: den Europarat, der 47 Staaten vereint, und die Europäische Union, zu der zur Zeit 28 von ihnen gehören,

In Erinnerung rufend, dass die zwei Lissabonner Verträge, die das Funktionieren der Institutionen der Europäischen Union definieren und regeln, die Notwendigkeit einer Teilhabe der Zivilgesellschaft und ihrer Zusammenschlüsse bei der Führung der europäischen Geschäfte anerkannt haben (Art. 11, §§1 und 2 des TUE; Art. 17, § 3 des TFUE), aber feststellend, dass die Union in der Praxis keinerlei Formen regulärer Kontakte zu allen Weltanschauungsgruppen anbietet,

Unter Berücksichtigung, dass die aktuellen Bedingungen des Funktionierens der Europäischen Union auf vielfältige Weise von großen Teilen der Völker infrage gestellt und kritisiert werden und dass ihr Bild in ihren Augen oft negativ ist besonders wegen einer unzureichenden Einbeziehung der europäischen Bürger selbst in ihre Vollzüge,

Unter Berücksichtigung der wichtigen, aber noch nicht ausreichenden Rolle bei der Annäherung der Bürger an die offiziellen europäischen Institutionen, die die Institutionen der Zivilgesellschaft wie die Konferenz der Nichtregierungsorganisationen (OING), die auf Initiative des Europarats geschaffen wurde, und das Europäische Zivilforum spielen,

In Erinnerung rufend, dass die Konvention zur Wahrung der Menschenrechte und fundamentalen Freiheiten des Europarats (1950) und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2000) Präzisionen beitragen bezüglich der Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu vertreten,

In Erinnerung rufend, dass der Europarat wiederholt, besonders in seinem „Weißbuch zum interkulturellen Dialog“ (2008), in seiner „Anleitung zur guten Praxis der zivilen Beteiligung am Entscheidungsprozess“ (2009) und im „Das Mittel des Dialogs“ ((2012) auf der Wichtigkeit eines interkulturellen Dialogs unter Berücksichtigung seiner religiösen aber auch weltanschaulichen Dimensionen bestanden hat; dass er 2007 und 2012 zwei internationale Konferenzen direkt zum Thema der Interkonviktionalität, organisiert von der Gruppe G3i, beherbergt hat.

Unterstreichend, dass der interkonviktionelle Austausch heute eine Notwendigkeit in allen pluralistischen europäischen Gesellschaften ist, um ihre kulturelle und weltanschauliche Vielfalt zu berücksichtigen, zu einer gewaltfreien Beilegung von Konflikten beizutragen und die Zusammenarbeit zwischen den Völkern zu entwickeln, und dass es die Verantwortung der öffentlichen europäischen Institutionen ist, sie mit erneuerten Methoden der Information, der Unterstützung, der Vorbereitung und der Begleitung politischer Entscheidungen aufzubauen, um so zur Entstehung einer europäischen interkonviktionellen Kultur beizutragen,

schlägt die Gruppe G3i dem Europarat und der Europäischen Union vor, die Schaffung einer Europäischen Charta der Interkonviktionalität in ihr Arbeitsprogramm aufzunehmen. Es würde sich anbieten, dass, wenn diese Charta einmal redigiert und dann ratifiziert wäre, jede betroffene Institution eingeladen würde, sie in die Tat umzusetzen. Eine solche Umsetzung würde auch eine spezielle Ausbildung beinhalten, die durch Erarbeitung eines Leitfadens für ihre Verwirklichung erleichtert würde.
Deutsche Übersetzung: Gerd Wild

*Die Gruppe G3i ist ein „Thinktank“ von Mitgliedern von NGOs, die beim Europarat akkreditiert sind und verschiedenen Nationen und Religionen angehören oder Agnostiker bzw. Atheisten sind. Sie trifft sich seit mehreren Jahren regelmäßig in Paris. Mit Kolloquien und Veröffentlichungen will sie das Zusammenleben in Europa und die gegenseitige Achtung und den Dialog als Bereicherung der Zivilgesellschaft erfahrbar machen.